Digitalisierung beeinflusst Fertigungs- und Lieferprozesse
Herr Desai, Herr Winiarski, welche Bedeutung messen Sie dem Begriff Industrie 4.0 im Zusammenhang mit der Stahlindustrie bei?
Winiarski: Stahl hat schon bei der ersten industriellen Revolution eine maßgebliche Rolle gespielt. Insofern ist thyssenkrupp prädestiniert und gefordert zugleich, bei der vierten ebenfalls eine Vorreiterrolle einzunehmen.
Desai: Immerhin hat Friedrich Krupp bereits 1811 seine erste Eisengießerei in Essen gegründet. Ohne den Stahl und die Dampfmaschine hätte es das Zeitalter der Mechanisierung, das wir heute als die erste industrielle Revolution bezeichnen, nicht gegeben. Und natürlich waren wir auch Teil von Industrie 2.0 und 3.0.
Winiarski: Wobei die industriellen Revolutionen in immer kürzeren Zeitspannen verlaufen sind und mit der Digitalisierung eine beispiellose Eskalationsstufe im Hinblick auf Rasanz und Tragweite erreichen. Wir können den Herausforderungen der digitalen Transformation nur gerecht werden, wenn wir uns immer wieder ihre Totalität vor Augen führen.
Muss man nicht zwischen den beiden Begriffen Industrie 4.0 und Digitalisierung unterscheiden?
Desai: Absolut. Durch die Digitalisierung des Alltags verändert sich unsere Gesellschaft nachhaltig. PC und Smartphone sind lediglich äußere Anzeichen hierfür. Wir sind gefordert, neue Lösungen für unser Zusammenleben zu finden. Wie verändert die Digitalisierung unser Sozialverhalten? Wie transparent darf der Mensch sein? Wie offen gehen wir als Gesellschaft mit der Vielzahl von Informationen um?
Winiarski: Die Industrie hatte schon vor 20 Jahren die Chance, sich zu digitalisieren, aber es bedurfte dann doch erst des radikalen Umbruchs in anderen Wirtschaftszweigen und des digitalen Durchbruchs in unserem alltäglichen Leben. Nun ist die Digitalisierung auch in die industrielle Fertigung eingezogen. Und sie wird explizit dort am stärksten wirken, wo der Großteil unserer Wertschöpfung sitzt – im Maschinen-, Anlagen-, Werkzeug- und Automobilbau.
Desai: Bei Industrie 4.0 haben wir es nicht mit Gesellschaftsmodellen, sondern mit Geschäftsmodellen zu tun. Da gilt es zu differenzieren: Es gibt Produkte und Dienstleistungen, die sind voll digitalisierbar, weil sie auf Daten und Informationen beruhen – in Branchen wie Medien, Versicherungen, Finanzwesen. Geschäftsmodelle also, deren Produktion nicht fest verortet ist. Die Kernaufgabe von thyssenkrupp Steel ist es aber, den Grundwerkstoff Stahl bereitzustellen. Das lässt sich nicht komplett digitalisieren. Da stecken zwar heute schon Unmengen an Bits und Bytes drin, aber ebenso 200 Jahre Erfahrung am Hochofen und in den Walzwerken.
Wo steht die Stahlbranche bei der industriellen Revolution heute?
Desai: Wir fangen nicht bei null an, denken wir an unsere Logistik, die Vernetzung mit unseren Kunden, Steuerung und Optimierung der Produktion sowie Forschung und Entwicklung. Mit einigen unserer Kunden haben wir bereits seit Jahren digitale Schnittstellen, sogenannte Electronic Data Interfaces, über die Produktions- und Auftragsdaten laufen und Millionen von Transaktionen abgewickelt werden. Mit „Steel Online“ bieten wir eine Plattform für Zwischenhändler, um Waren einfach von uns kaufen und damit handeln zu können, sodass jeder Kunde ganz individuell seinen gewünschten Stahl beziehen kann. Unsere Geschäftseinheit Precision Steel bietet die Möglichkeit, den Produktionsprozess zeitgenau zu verfolgen. Der Kunde kann sogar, wenn auch in Maßen, eingreifen, falls er einen Auftrag verschieben möchte.

Wie sehen die nächsten digitalen Schritte für Ihr Geschäft aus?
Desai: Der wichtigste Punkt ist hier die Kundenorientierung. Die digitale Transformation bietet viele neue Möglichkeiten, uns mit unseren Kunden zu vernetzen. Um das zu erreichen, ist es nötig, die internen Prozesse zu optimieren und übergreifend zu strukturieren. Wir streben eine funktionale Exzellenz an, das heißt, wir verbessern im ersten Schritt Transparenz und Prozessorientierung und fördern einen Kulturwandel im Unternehmen.
Winiarski: Kundenorientierung in den Mittelpunkt zu stellen, ist genau der richtige Ansatz. Nach der Luhmann’schen Systemtheorie tendieren große Systeme irgendwann zur Selbsterhaltung. Anders ausgedrückt: Sie machen ihren Job zwar gut, laufen jedoch Gefahr, sich an zu vielen kleinen, internen Themen aufzuhalten und den Grund ihrer Existenz aus den Augen zu verlieren. Die Digitalisierung stellt nun vieles auf den Kopf und schärft wieder den Blick für das wirklich Wesentliche: An der Zufriedenheit des Kunden muss sich alles andere messen lassen.
Wie wirkt sich die Digitalisierung auf den Arbeitsalltag aus?
Desai: Wir kommen aus einer Ingenieurskultur, das heißt, wir analysieren alles und wollen ein Ergebnis im „Entweder-oder-Modus“. In Zukunft werden wir es jedoch mit ganz viel „Sowohl-als-auchs“ zu tun haben. Ob das die Vielfalt von Geschäftsmodellen oder Persönlichkeiten ist – nicht umsonst ist „Diversity“ ein Parallelphänomen von Industrie 4.0. Scheinbar gegensätzliche Dinge werden gleichzeitig passieren und möglich sein. Die Frage ist: Wie kanalisieren wir das? Unsere Kernprozesse, die seit Jahrzehnten funktionieren, werden wir weiterlaufen lassen. Doch daneben schaffen wir Räume für neue Denkansätze, die das Experimentieren ebenso einschließen wie das Infragestellen des Althergebrachten.
Winiarski: Nicht nur Geschäftsmodelle und Fertigungsverfahren ändern sich, sondern das Arbeiten generell. Manuel Castells hat dafür schon um die Jahrtausendwende den Begriff der „Netzwerkgesellschaft“ geprägt. Weniger Hierarchie und Unterteilung, mehr zusammenführendes Miteinander. Hierbei spielen digitale Tools eine immer größere Rolle.
Desai: Natürlich braucht es gewisse Regeln und Rahmenbedingungen, doch wir kommen künftig nicht umhin zu fragen, wann Menschen gern zusammenarbeiten und wo. Um dann geeignete Ökosysteme zu schaffen, die das in Balance bringen. Ohne dabei unseren Hauptproduktionsprozess zu vernachlässigen.
Winiarski: Richtig. Digitalisierung und technologische Revolution brauchen Leitplanken und müssen in eine gesellschaftliche Diskussion eingebettet sein. Wir sollten eine weitere Polarisierung unserer Gesellschaft tunlichst vermeiden. Politik und Wirtschaft steht hier in den nächsten Jahren eine immens wichtige Aufgabe bevor, in die beide erst noch hineinwachsen müssen.
Desai: Ganz richtig. Das ist auch ein Ruf nach verantwortungsbewusster Unternehmensführung. Es muss darum gehen, zukunftsfähige Jobs zu erhalten und sogar neue zu schaffen, anstatt eine Gewinner-Verlierer-Diskussion entstehen zu lassen.
Wir sind heute nicht zufällig in Berlin, was hat die Stadt mit der digitalen Transformation von thyssenkrupp zu tun?
Winiarski: Die Berliner Szene beweist, dass ganz viel auch ohne vielschichtige Unternehmensstrukturen und festgelegte Prozesse möglich ist. Deswegen brauchen wir den Brückenschlag zwischen Berlin als dem digitalen Zentrum unseres Landes und den Standorten, an denen die größte industrielle Wertschöpfung stattfindet. Das sind in erster Linie Regionen wie Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen. Es nützt unserem Land nichts, wenn Berlin ein toller Tech-Hub ist, aber wir hier in unserer B2C-Blase vor uns hinarbeiten und glauben, wir hätten mit der traditionellen Industrie nichts zu tun.
Desai: Aus diesem Grund wollen wir uns hier vor Ort vernetzen und präsent sein. Uns von dem „Berliner Spirit“, wenn Sie wollen, anstecken lassen und ihn an unsere Standorte bringen. Denn er muss in alle Ecken unseres Landes getragen werden, im Grunde sogar darüber hinaus. Ganz Europa muss sich öffnen und darf nicht nur Bewahrer traditioneller Industrien sein, sondern ist verpflichtet, sie im modernen Sinne weiterzuentwickeln.
Winiarski: Es ist aber nicht so, dass nur die etablierte Welt, die gern als Old Economy bezeichnet wird, von der New Economy lernen muss. Umgekehrt gilt das ganz genauso. Themen wie Nachhaltigkeit, soziale und gesellschaftliche Verantwortung, Arbeiten unter großem öffentlichen Druck sind den Start-ups hierzulande nicht immer gegenwärtig. Diese moralische Form des Wirtschaftens gehört aber zur unternehmerischen Verantwortung dazu.

Welche Möglichkeiten bietet Berlin den Unternehmen?
Winiarski: Mittlerweile hat fast jeder Konzern eine digitale Hauptstadtrepräsentanz. Die Art des Engagements ist ganz unterschiedlich. Es gibt Accelerator-Programme, über die junge Gründer Anschubkapital und Kooperationsmöglichkeiten für Unternehmensanteile erhalten. Oder man hat einen Venture-Capital-Fonds, mit dem gezielt Start-ups unterstützt werden. Beliebt sind auch Co-Working Spaces, die man entweder selbst als Unternehmen aufsetzt und andere Start-ups mit hineinholt oder dort all seine Marken in kleinen Einheiten zusammenführt. Eine weitere Option sind Innovation-Hubs oder Thinktanks, in denen gezielt neue Lösungen gesucht und dann zurück ins Unternehmen gespielt werden.
Desai: Und genau das ist Kundenorientierung. Ich muss als Konzern dort sein, wo meine Kunden sind. Wenn sie also in Berlin aktiv nach neuen Wegen, Ideen, Antworten suchen, dann müssen wir Teil davon sein, uns frühzeitig informieren und als Partner anbieten. Sei es bei Fragen des Materials, der Logistik, der Planung oder unserer Daten.
Sie haben die Daten angesprochen. Wie lässt sich dieser digitale Rohstoff sichern?
Desai: Hackerangriffe beweisen, wie wir aus eigener Erfahrung wissen, dass Daten ein sehr kostbares Gut sind, das es zu schützen gilt. Das bedeutet Aufwand, ist aber eine Realität, der wir uns stellen müssen. Mit Daten lässt sich jedoch auch Handel betreiben. Deshalb sind wir Gründungsmitglied in der Industrial Data Space Association, deren Ziel es ist, einen sicheren Datenraum für eine digital vernetzte Wirtschaft zu schaffen.
Winiarski: Dennoch ist es grundsätzlich vernünftig, immer auf der Hut zu sein. Seien es Angreifer, die Daten stehlen, oder Geschäftsmodelle, die einem den kapitalintensiven Produktionsprozess überlassen, aber dafür in Handel und Logistik hineingrätschen und einem schließlich über ihre weltweit umspannenden Plattformen ein entscheidendes Geschäftsfeld wegnehmen. Man muss sich schon im Klaren sein, dass da draußen genügend finanzkräftige Herausforderer lauern. Deshalb braucht es für die erfolgreiche digitale Transformation auch eine gehörige Portion Mut und Geschwindigkeit.
Desai: Am Ende kann das alles einem dienen: dem Kunden. Unser Stahl ist nur Teil eines Endproduktes – egal ob Auto, Produktionsmaschine oder Konservendose. Die Arbeit, die wir leisten, muss dem Konsumenten dienen. Deswegen müssen wir nicht nur unsere direkten Kunden verstehen, sondern auch wiederum deren Kunden kennen. Wir müssen verstehen, was der Endkonsument möchte, wie sich die großen Märkte und Gesellschaften verändern und Themen wie Mobilität, Urbanität, Umwelt entwickeln. Damit beschäftigen wir uns intensiv. Denn nur wenn unsere Kunden erfolgreich sind, sind wir es auch.
Künstlercredit:
Als Requisite diente die Bilderreihe „MA-JA-Code Project, Data- Matrix-Code-Pix Installation“ des Berliner Malers Falk Richwien. Probieren Sie die QR-Codes aus und lernen Sie mehr über seine Arbeit kennen.