Hans Jürgen Kerkhoff (l.), Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, und Matthias Kleiner, Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, sprachen über die Bedeutung von Forschung und Wirtschaft für unsere Gesellschaft.
Deutschland gilt als eines der innovativsten Länder der Welt. Worauf gründet sich das?
Kleiner: Innovation basiert auf Forschung, insbesondere auf unserer intensiven Grundlagenforschung. Sie hat eine lange und starke Tradition in Deutschland und viele Innovationen hervorgebracht oder zumindest entscheidend dazu beigetragen.
Kerkhoff: Kennzeichnend für das industrielle Geschäftsmodell in Deutschland ist die Vernetzung der Branchen. Die Beziehung Lieferant/Kunde ist nicht nur eine rein ökonomische Verbindung, sondern auch eine Innovationspartnerschaft. Sie kann ebenso zwischen Unternehmen bestehen sowie zwischen Unternehmen und Instituten – sei es im Bereich der Grundlagen- oder der Anwendungsforschung.
Kleiner: ... richtig. Sie sind ja auch Gesellschafter des Max-Planck-Instituts für Eisenforschung in Düsseldorf – eine wunderbare und einzigartige Kombination ...
Kerkhoff: ... ja, ich glaube, das macht einen Teil der Stärke unseres Standorts aus. Wir denken nicht ausschließlich in ökonomischen Wertschöpfungsketten, sondern in hybriden Netzwerken. Und die Industrie ist darin ein wichtiger Treiber für Innovationen. Nicht zuletzt hat diese Basis Deutschland nach 2009 schneller aus der Krise geführt. Und sorgt dafür, dass wir in Zukunft wettbewerbsfähig sind.
Ist dieser hohe Standard langfristig zu halten?
Kleiner: Wir könnten noch besser sein – etwa bei den strategischen Partnerschaften zwischen Wissenschaft und Industrie. Die Wissenschaft ist zwar unternehmerischer geworden, aber ich wünschte mir das umgekehrt auch stärker von Unternehmen. Oft beschäftigen sie sich damit, ihren Einkauf zu optimieren und zu rationalisieren, meist sehr erfolgreich – seltener kümmern sie sich jedoch dabei um neues Wissen. Es ist wichtig, in das Know-how der Zukunft zu investieren, und das professionell.
Kerkhoff: Dafür brauchen wir aber an die Wettbewerbssituation angepasste Rahmenbedingungen. Grundsätzlich muss das Verständnis für industrielle Strukturen seitens des „politischen Regulators“, wie ich es gerne nenne, wachsen.
Was meinen Sie damit genau?
Kerkhoff: Wir haben mit der Politik momentan eine heftige Diskussion über die CO2-Regulierung. Wir müssen darauf achten, dass die energie- und klimapolitischen Maßnahmen unsere Wettbewerbsfähigkeit nicht gefährden. Hier wünsche ich mir zum Beispiel, dass Lebenszyklusanalysen mehr Beachtung finden. Dass die positiven Eigenschaften des Werkstoffs Stahl, die er gerade in der Anwendungsphase zu bieten hat, ebenso mit einbezogen werden wie seine Recyclingfähigkeit.
Kleiner: Stahl ist ein hervorragendes Beispiel für das qualitative Wachstum, das wir im Innovationsbereich brauchen. Stahl vor 30 Jahren ist nämlich nicht zu vergleichen mit dem, der heute standardmäßig in vielen Anwendungen vorkommt.
Kerkhoff: Und in dem Sinne sind Unternehmen nicht nur Werkstoffanbieter, sie bieten auch Systemlösungen an.
Kleiner: Insofern kann man bei Stahl von einer Systemrelevanz für unsere Gesellschaft sprechen. Ich bin überzeugt, dass wir diese Branchen sichern und weiterentwickeln müssen.
Was können Forschungsinstitute oder Verbände dafür tun?
Kleiner: Forschungsinstitute müssen zunächst einmal das Wissen bereitstellen. Sie müssen das mit hoher gesellschaftlicher Relevanz und auf höchstem wissenschaftlichem Niveau tun. Die Wissenschaft muss für die Gesellschaft da sein. Ein Grund für die Innovationsfähigkeit in Deutschland ist der Konsens aller Parteien, dass Wissenschaft, Innovation und die Umsetzung in der Wirtschaft Hand in Hand gehen.
Kerkhoff: Eine Organisation, wie ich sie führen darf, hat immer auch eine kommunikative Aufgabe. Wir müssen einerseits der Politik die industrielle Wirklichkeit vermitteln – also die Bedingungen, unter denen die Wirtschaft produziert. Andererseits gilt es, die Auswirkungen politischen Handelns auf Unternehmen und Branchen zu analysieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, wie damit umzugehen ist.
Haben wir denn genug Fachkräfte im Land, die wir halten können?
Kleiner: Momentan stehen wir relativ gut da. Trotzdem wird die demografische Entwicklung auch hier ein Problem werden. Wir müssen konsequent daran arbeiten, Einwanderung zu ermöglichen und dies vor allem strukturierter anzugehen. Hier ist Deutschland zu beliebig. Derzeit kommen auch viele Flüchtlinge zu uns. Natürlich müssen wir uns in erster Linie aus humanitären Gründen um diese Menschen kümmern. Ich sehe hier aber ebenso ein enormes intellektuelles Potenzial für unser Land.
Kerkhoff: Der demografische Wandel stellt uns zudem vor die wichtige Frage, wie wir unser Erfahrungswissen über mehrere Generationen weitertragen. Ich glaube aber auch: Erfolg macht attraktiv. Das heißt, wenn wir herausragende, spannende Projekte haben, die langfristig wirken, wie die Elektromobilität oder die Vernetzung von Digitalisierung mit industrieller Produktion, dann zieht das Fachkräfte an und hält Experten im Land.
Zurück zur innovativen Werkstoffindustrie: Welche volkswirtschaftliche Bedeutung hat sie?
Kerkhoff: Innovationen entwickeln sich im Verbund, und wenn Teile dieser Kette fehlen, geht das zulasten aller. Wir haben mal eine Ist-Analyse gemacht: Etwa 50 Prozent aller Produkte, die wir aus Deutschland exportieren, sind stahlintensive Güter – vornehmlich Autos, Maschinen und Anlagen. Beim deutschen Exportüberschuss macht das sogar rund 75 Prozent aus. In vielen Dingen, mit denen wir erfolgreich sind, spielt Stahl eine wichtige Rolle.
Kleiner: ... die erneuerbaren Energien nicht zu vergessen. Wie viel Stahl steckt allein in der Windkraft!
Kerkhoff: ... ganz richtig. Und gerade in der Anwendung helfen neue Stähle, beispielsweise CO2 zu reduzieren. Das zeigt sich ganz besonders im Kraftwerksbau. Höherwertige und hitzebeständige Stähle sind erforderlich, um nachhaltig Energie zu produzieren. Ein wichtiger Aspekt, auf den wir alle nicht verzichten wollen.
Kleiner: Ich möchte auch noch mal anmerken, dass es nicht nur auf naturwissenschaftlich-technische Innovationen ankommt, sondern auch auf Innovationen, die aus den Sozial- und Geisteswissenschaften heraus kommen. Soziale Innovationen, wenn Sie so wollen. Nehmen Sie das autonome Fahrzeug, das technisch bereits so gut wie Realität ist. Doch was sind die gesellschaftlichen, die juristischen Rahmenbedingungen dafür? Wer haftet zum Beispiel bei einem Unfall? Bei Innovationen wird es künftig wichtig, sowohl über sozial-, geistes- und ingenieurwissenschaftliche Aspekte nachzudenken.