Tagespresse, 19.09.2016, 15:57
Vergiss mein nicht: Eine Geschichte über Liebe und Demenz – Betroffene können sich Stammtisch ehemaliger thyssenkrupp-Mitarbeiter anschließen
Lothar Schulz steht in Pantoffeln im Flur, erschöpft, aber zufrieden. In den Händen hält der ehemalige Mitarbeiter von thyssenkrupp die Fernbedienung für den Fernseher. Zum ersten Mal seit langem erinnert er sich wieder daran, dass er damit das Gerät in seinem Wohnzimmer anschalten kann. Nun muss der 78-Jährige nur noch die richtige Tür finden, um in den richtigen Raum zu kommen. Welche war es noch mal? Der stattliche Mann mit den freundlich leuchtenden Augen leidet an der Alzheimer-Krankheit. Seit sieben Jahren leben seine Frau Renate und er mit der Diagnose. „Plötzlich war alles anders“, sagt die 79-Jährige. Er erkannte die Nachbarn nicht mehr, wunderte sich, warum er von vermeintlich Fremden mit seinem Namen begrüßt wurde.
Seine Brille suchen oder unsicher sein, ob man das Bügeleisen ausgestellt hat: Leichte Zerstreutheit kennt jeder. Bei Demenzerkrankten aber schwinden langsam und unwiederbringlich Gedächtnis, Orientierungssinn und Konzentrationsfähigkeit – das Alltagsleben wird zu einer Herausforderung für die Betroffenen und Angehörigen. Die Schulzes nutzen zur Unterstützung das Angebot einer Tagespflege. Darüber hinaus sind sie eines der Ehepaare, die regelmäßig am Demenz-Stammtisch der Novitas BKK und thyssenkrupp für ehemalige thyssenkrupp-Mitarbeiter und deren Familien teilnehmen. Dort können sie offen über Sorgen reden und sich gegenseitig Rat geben. Was es im Unternehmen Neues gibt, berichtet dann Dr. Irmgard Spickenbom, Leiterin des Sozialservice im Stahlbereich von thyssenkrupp. Sie begleitet die Gruppe auch bei Touren über das Werkgelände im Duisburger Norden.
„Bei den Erkrankten ist noch eine so große Verbundenheit und Begeisterung für den früheren Arbeitgeber spürbar, dass seit 2012 Treffen organisiert werden. Schließlich macht das Unternehmen als berufliches Zuhause einen Großteil der Lebensgeschichte aus“, so die Initiatorin der Veranstaltung, Susanne Wißmann von der Novitas BKK. Lothar Schulz trägt immer noch gerne die Uhr, die er zum 25-jährigen Dienstjubiläum für seine Arbeit im Rechnungswesen bei thyssenkrupp bekommen hat, auch wenn er sie schon lange nicht mehr lesen kann. Seine Tätigkeit, die Kollegen und vor allem die Routine, fehlen ihm. „Wir beobachten oft, dass insbesondere die an Demenz erkrankten Männer aufblühen, wenn sie an ihren Arbeitgeber erinnert werden.“ Um hier den Betroffenen zu helfen, werden für Erkrankte und ihre Angehörigen auch Werkführungen durch die Stahlproduktion in Duisburg organisiert.
Ein Leben ohne gestern
Fast 57 Jahre sind die Schulzes verheiratet, haben jeden Kontinent gemeinsam bereist, ein Kind großgezogen und dürfen sich über vier Enkelkinder freuen: „Wir haben eine gute Ehe geführt; es war immer harmonisch“, so Renate Schulz. Heute reden sie zwar noch viel miteinander, aber eine wirkliche Unterhaltung sei es kaum noch, „da kommt kein Echo mehr“. Ihr Umgang mit ihrem zunehmend vergesslicher werdenden Partner ist gütig und konsequent zugleich: Demenzerkrankte haben Probleme mit schneller Anpassung an Neues und sind leicht irritierbar, ein Plan ist deshalb wichtig. Renate Schulz hat alles fest im Griff und gestaltet das Leben für beide mit viel Geduld und Pragmatismus. Außer ihr Mann macht etwas Unvorhersehbares, wie etwa beim Verlassen eines Restaurants noch schnell das Schnitzel eines fremden Paares vom Teller zu nehmen, weil er das eigene Sättigungsgefühl bereits vergessen hat. Dann verliert die elegante Dame mit dem ruhigen Auftreten doch kurz die Fassung: „Das ist mir richtig peinlich. Aber wenn ich erkläre, dass mein Mann an Demenz leidet, haben die meisten - Gott sei Dank - Verständnis.“
Wenn Lothar Schulz in seinen seltenen wachen Momenten einmal nicht vergisst, dass er fast alles vergisst, ärgert er sich über seine Erkrankung: „Warum kann ich nichts mehr behalten“, schimpft er dann. „Wir sind alte Leute, wir werden immer schusseliger“, antwortet ihm dann seine Frau und tätschelt seine Hand. Auf die Symptome von Demenz aufmerksam machen und für Verständnis werben möchte sie sowie anderen Betroffenen Mut machen. „Ich schätze mit ihm das Leben im hier und jetzt. Es ist eine andere Liebe zwischen uns geworden. Ich bin mir aber sicher, dass er heute auch noch glücklich ist.“
Welt-Alzheimertag und Woche der Demenz
Seit 1994 wird jährlich weltweit am 21. September auf die Erkrankung Alzheimer aufmerksam gemacht. Das Motto der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e.V. (DAlzG) für den diesjährigen Welt-Alzheimertag und die Woche der Demenz 2016 in Deutschland lautet "Jung und Alt bewegt Demenz". Die Woche der Demenz findet in diesem Jahr vom 19. bis 25. September statt. Sie wird von der nationalen "Allianz für Menschen mit Demenz" ausgerufen. In Deutschland organisieren die örtlichen Alzheimer-Gesellschaften und Selbsthilfegruppen jedes Jahr eine Reihe von regionalen Veranstaltungen.
Der Stammtisch der Novitas BKK und thyssenkrupp findet einmal im Monat immer am letzten Mittwoch statt. Interessierte, auch anderer Krankenkassen, können sich bei Susanne Wißmann melden:
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