Ein Besuch im Presswerk von Volkswagen Sachsen in Zwickau: Hier werden Komponenten für den MBQ, den modularen Querbaukasten von Volkswagen, gefertigt und an alle europäischen Produktionsstätten der Konzernmarken Seat, Skoda und Audi geliefert. In Zwickau selbst verbleibt nur der Teil für die Herstellung des Golf und Golf Variant.
"Wir produzieren aktuell den Längsträger für die Golf-Plattform", sagt Ferry Grumptmann, der für die Einzelteil- und Gesamtplanung des Presswerks zuständig ist. Rechnet man die Stückzahlen für den linken und den rechten Längsträger zusammen, verlassen jeden Monat rund 320.000 Bauteile das Werk.
Diese enorme Produktionsmenge war ein Grund, warum sich die Technologieplanung und -entwicklung Produktionsprozesse des Volkswagen-Konzerns in Wolfsburg vor zwei Jahren an die Kollegen in Sachsen wandte. "Es ging darum, eine Weiterentwicklung des beschnittfreien kalibrierenden Tiefziehens zu testen", sagt René Groß, Leiter der Instandhaltung Presswerk in Zwickau. "Eine Methode, die insbesondere für die Umformung von höherfesten Stählen in der Kaltumformung entwickelt wurde." Dieses, von thyssenkrupp Steel zum smartform®-Prozess weiterentwickelte und patentierte Verfahren, eignet sich zur Herstellung von Bauteilen mit hohen Anforderungen an die Maßhaltigkeit aus Stählen mit Festigkeiten jenseits der 600 Megapascal (MPa).
Diese Vorteile bietet smartform® bei der Umformung von Bauteilen:
- Gleichbleibende Bauteilqualität durch nahezu rückfederungsfreie Umformung höchstfester Stähle
- Geometriefreiheiten und höchste Prozesssicherheit bei der Kaltumformung hochfester Stähle
- Reduzierter Materialeinsatz von durchschnittlich 15 Prozent und höhere Materialausnutzung pro Coil (abhängig vom Bauteil)
- Signifikante Kostenoptimierung und Zeitersparnis im Werkzeugdesign, Werkzeugaufbau und im Serienanlauf
Umformung höchstfester Stähle
Der smartform®-Prozess eröffnet neue Potenziale für den Leichtbau. Kaltgewalzte Dualphasenstähle von thyssenkrupp Steel vergrößern das Anwendungsspektrum in der Kaltumformung: Sie verfügen über einen hohen Deformationswiderstand, ein ebensolches Energieaufnahmevermögen sowie verbesserte Kaltumformeigenschaften. Gleichzeitig erhöhen sie die Herausforderungen an die Prozesskette in der Bauteilfertigung.
„Bereits im Rahmen von InCar®plus haben wir am Beispiel eines Längsträgers ein Verfahren für die Kaltumformung vorgestellt, das insbesondere die in der Praxis unvermeidbare Rückfederungsproblematik kompensiert“, sagt Hans-Joachim Sieg. Er ist technischer Kundenberater bei thyssenkrupp Steel und zuständig für die Zusammenarbeit mit Volkswagen, wenn es um Werkstoffthemen geht.
„Beim konventionellen Tiefziehen hole ich mir das Material, das ich dafür brauche, aus der Dicke“, so Sieg. „Wenn das Material dünner wird, bekommt es mehr Spannung, die dann wieder zurückfedert, sobald ich das Bauteil aus dem Werkzeug nehme.“
Stauchen statt Ziehen
Das „smartform®“-Verfahren besteht konzeptionell aus zwei Arbeitsstufen: dem Herstellen einer Vorform, die dem fertigen Bauteil möglichst ähnlich ist, sowie dem anschließenden Einstellen der Maßhaltigkeit im Kalibrierprozess. So läuft der Prozess im Einzelnen ab:
Das Besondere bei dieser Art der Umformung: Anstatt das Material zu ziehen und somit auszudünnen, wird es während des Kalibriervorgangs gestaucht. Beim smartform®-Verfahren wird die Platine außerdem bereits vor dem Umformen so zugeschnitten, dass sie nahezu der Endkontur des fertigen Bauteils entspricht. Damit verringern sich innerhalb der Prozesskette die Beschnitt-Operationen und der Materialeinsatz. „Wir haben weniger Einsatzgewicht, weniger Schrott und weniger Entsorgungskosten", sagt Groß. Damit ließen sich in der Serienfertigung auf lange Sicht auch Energiebedarf und Investitionskosten senken.
smartform® ist für unterschiedliche Bauteile der Fahrzeugstruktur geeignet, auch für u-förmige Profile wie den Längsträger. Groß: „Wir sind nicht nur aufgrund der Form und der Anwendung des Bauteils der ideale Partner, sondern auch, weil wir hier viel davon benötigen und mit höherfesten Materialien Erfahrung haben.“ Dazu komme außerdem die von thyssenkrupp Steel in Aussicht gestellte Möglichkeit, dass künftig sogar noch festere Güten einsetzbar wären.
Der Weg zur Serieneinführung
Auf Basis der Geometrien des zu produzierenden Längsträgers wurde gemeinsam mit thyssenkrupp System Engineering zunächst ein Erprobungswerkzeug konzipiert und anschließend ein Prototyp konstruiert.
„Es war verblüffend zu sehen, wie schon beim ersten Umformversuch ein sehr gutes Bauteil aus der Presse kam“, so Grumptmann. „In der Zusammenarbeit ist es uns gelungen, an zwei für uns kritischen Stellen mehr Fertigbeschnitt in die Platine einzubringen. Daraufhin haben wir dann die Serienmethodik entwickelt.“
Hierbei wurde zudem deutlich, dass das smartform®-Verfahren schon bei der Gestaltung des Bauteils in Betracht gezogen werden sollte, damit es alle Vorteile entfalten kann. „Es sollte das Ziel sein, dass künftig alle Bauteil-Geometrien, die smartform® zulassen, auch mit smartform® hergestellt werden“, so Groß.
Als Nächstes muss sich die Serientauglichkeit und Prozesssicherheit des Verfahrens in der Praxis zeigen. Schon heute beruht die gute Erfahrung auf dem Umformen einiger Tausend Bauteile.
„Noch können wir nicht sagen, ob sich all unsere Erwartungen auch langfristig erfüllen“, sagt Grumptmann, der auch für die Kostenkontrolle und Einhaltung der Lieferzeiten verantwortlich ist. Und der natürlich in Zukunft auf hohe Maßhaltigkeit, höhere Stückzahlen, geringere Wartungsaufwände und weniger Materialeinsatz setzt. „Wenn der Prozess jedoch so gut läuft, wie er sich andeutet, habe ich da keine Bedenken.“