Herr Matusczyk, die Autobranche befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch? Wie begleiten Sie als Stahllieferant diesen Wandel?
Matusczyk: Für uns ist das genau der richtige Zeitpunkt, in einen intensiven Dialog über die Zukunftsthemen der Mobilität zu treten. Die Automobilindustrie ist mit rund 400 Milliarden Umsatz die bedeutendste Branche in Deutschland und zugleich entscheidender Treiber für den technischen Fortschritt. thyssenkrupp Steel ist seit Jahrzehnten enger Partner der Autoindustrie und erzielt gut die Hälfte seines Umsatzes mit Produkten und Dienstleistungen rund ums Auto. Unser Ziel ist es, die OEMs bei der Transformation ihrer Industrie noch zielgerichteter zu unterstützen.
Wie sieht diese Unterstützung aus?
Matusczyk: Die Fahrzeugindustrie wandelt sich radikal: OEMs entwickeln sich über die reine Fahrzeugproduktion hinaus zu Mobilitätsdienstleistern und Internetkonzerne wie Google steigen in die Autoproduktion ein. Lang gültige Wertschöpfungsgrenzen lösen sich auf. Vom autonomen Fahren bis zur Elektromobilität muss die Autoindustrie mehrere Entwicklungsstränge gleichzeitig verfolgen. Das erfordert enorme Investitionen bei gleichzeitig hohem Kostendruck. Wir haben als Werkstoffpartner einen Überblick über die gesamte Branche und die sich ändernden Anforderungen. Fahrzeuge mit konventionellen Antrieben können weiterhin von unseren wirtschaftlich attraktiven Stahlleichtbaulösungen profitieren. Wir sind aber genauso bereit, den Umschwung zur Elektromobilität mit unserer Initiative selectrify® und den dafür passenden Materialkonzepten zu begleiten.
thyssenkrupp wird also für beide Antriebsarten neue Werkstoffe bereitstellen?
Matusczyk: Ganz genau. Für die Elektromobilität steht die Weiterentwicklung unserer Elektrobandsorten im Fokus, um die Motoren noch effizienter zu machen und damit die Reichweite der Autos zu erhöhen. Das ist im Übrigen neben den Kosten ein weiterer zentraler Aspekt für die Akzeptanz von Elektroautos. Für konventionell angetriebene Autos treiben wir vorrangig hochfeste, gewichtsparende Lösungen voran – sowohl für die Warm- als auch für die Kaltumformung. Das können beispielsweise Weiterentwicklungen für den Einsatz in crashrelevanten Bereichen sein, mit denen der Autobauer ohne Einbußen beim Insassenschutz Gewicht sparen kann.
Hat der Leichtbau für Elektrofahrzeuge noch eine Bedeutung?
Matusczyk: Wir gehen davon aus, dass das Thema Leichtbau bei Elektrofahrzeugen neu bewertet wird. Prinzipiell gilt: Je leichter ein Auto ist, desto größer ist seine Reichweite. Aber dieser Gewichtseffekt ist viel geringer, als man denkt. Wir haben berechnet, dass ein durchschnittliches Elektrofahrzeug bei 100 Kilogramm Gewichtsreduktion nur rund 8 Kilometer Reichweite gewinnt.
Woher soll die Reichweite dann kommen?
Matusczyk: Viel entscheidender sind Batterie und Antrieb. Das Geheimnis der Reichweite liegt im rekuperativen Antrieb: wie gut der Antriebsstrang zum Beispiel beim Bremsen Energie zurückgewinnen kann. Das heißt aber nicht, dass der Stahl-Leichtbau künftig nicht mehr relevant ist. Er hilft vielmehr dabei, Elektromobilität für den Großteil der Bevölkerung erschwinglich zu machen – dank bezahlbarer Werkstofflösungen.
Welche Rolle spielt der Stahl bei der Elektromobilität?
Matusczyk: Ohne Stahl gibt es keine Elektromobilität. Ohne Elektroband funktionieren keine Generatoren, keine Transformatoren und auch keine Elektromotoren. Damit ist die gesamte Prozesskette Energie zwingend auf Stahl angewiesen: von der Erzeugung über Transport und Verteilung zu Ladestationen bis hin zur Mobilität mit Elektroautos. Mit unserer selectrify® Initiative bündeln wir unser Know-how rund um die Elektromobilität. So wird Stahl künftig In der Karosserie neuer Fahrzeuggenerationen eine Rolle spielen. Diese spielt er auch bei der Einhausung von Hochvolt-Fahrzeug-Batterien. Denn unsere neu entwickelten Konzepte erfüllen höchste Anforderungen an Crashsicherheit, Gewicht und Gesamtkosten. Im Vergleich zu einer Variante aus Aluminium ist unser Batteriegehäuse nahezu gewichtsneutral und bis zu 50% günstiger. Ferner steht die Weiterentwicklung unserer Elektrobandsorten im Fokus, um die E-Motoren noch effizienter zu machen und damit die Reichweite der Autos zu erhöhen.
Woran arbeitet der Stahlbereich von thyssenkrupp konkret?
Matusczyk: Wir erweitern unser Angebot bei Dualphasenstählen um neue, hochfeste Sorten und optimieren das Portfolio dort insgesamt. Bei unseren innovativen und stark nachgefragten Zink-Magnesium-Überzügen verbessern wir unter anderem mit dem Neubau der FBA 10 in Dortmund die weltweite Verfügbarkeit. Wir rechnen damit, dass sich künftig der Entwicklungsfokus stark in Richtung Kostenoptimierung von Bauteilen verschiebt, ohne dass dabei der Schutz von Insassen und Passanten vernachlässigt wird. Hier sehen wir für Stahl gute Chancen, entsprechend entwickeln wir unser Portfolio konsequent weiter.
Wenn sich Fahrzeuge und ihre Antriebe radikal ändern, muss sich also der Werkstoff Stahl ebenfalls ändern …
Matusczyk: Selbstverständlich. Es gehört zu unserer täglichen Arbeit, unseren Kunden genau die spezifischen Werkstofflösungen zu liefern, die sie benötigen – für konventionelle Anwendungen genauso wie für ganz neue. Nicht zuletzt aus diesem Grund feiert unsere Anwendungstechnik in diesem Jahr 50-jähriges Bestehen. Stahl stellt ständig seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis. Meine Überzeugung ist, dass die Potenziale unseres Werkstoffes noch lange nicht ausgeschöpft sind.
Und spielt in diesem Zusammenhang die Digitalisierung bei der Stahlproduktion auch eine Rolle?
Matusczyk: Natürlich haben wir das Thema Digitalisierung fest im Blick. So möchten wir uns künftig noch besser mit unseren Kunden vernetzen. Nur so können wir als Werkstoffpartner gemeinsam mit ihnen kommende Herausforderungen meistern und den steigenden Veränderungsdruck im wichtigsten deutschen Industriezweig bewältigen. Wir freuen uns darauf, zusammen den Umbruch in der Automobilindustrie zu gestalten. Er bietet große Chancen, neue und innovative Produkte und Dienstleistungen für eine nachhaltige und effiziente Mobilität zu entwickeln. Wir sind dazu bereit.